Herman van Veen

Herman van Veen


Und wenn die ganze Erde bebt

Jeden Abend denk ich beim Spazierengehn:
Warum ist hier draußen kein Mensch zu sehn?
Doch die Nachbarn interessiert kein Abendstern;
alle sehen, wie ein Blick durchs Fenster zeigt, nur fern.
Ausgezehrt und ausgelaugt und ausgebrannt;
Haus für Haus starrt alles wie gebannt.
Und beweisen die Bilder auch das Gegenteil:
In den Zimmern ist und bleibt die Welt noch heil.

Und wenn die ganze Erde bebt,
das Fernsehvolk bleibt unberührt,
weil der, der nur am Bilschirm klebt,
die Wirklichkeit nicht mehr spürt.


Jede Wohnung ist ein isolierter Raum,
und durch die vier Wände dringt kaum ein Traum.
Man man sieht und sieht, und was man sah, vergißt man prompt.
Es wird alles aufgesehn, was auf den Bildschirm kommt.
Da ist kein Platz mehr für Liebe und Begeisterung,
da stirbt jede Diskussion bei Alt und Jung.
Das einzig Frische hier ist höchstens noch das Bier,
und die Phantasie bleibt draußen vor der Tür.

Und wenn die ganze Erde bebt...

Eines abends kommt das Fernsehpublikum,
ohne das es etwas merkt, plötzlich um.
Nicht durch Langeweile oder Ungeduld;
es wird von einer fremden Macht ganz einfach eingelullt.
Durch gezielte ständige Berieselung
mit Pessimismus schwindet schnell der letzte Schwung.
Ein Schuß Rassismus; wenn der noch was übrig läßt:
Ein Schuß Zynismus gibt allen dann den Rest.

Und wenn die ganze Erde bebt...



Ich hab' ein zärtliches Gefühl

Ich hab' ein zärtliches Gefühl
für jeden Nichtsnutz, jeden Kerl,
der frei umherzieht ohne Ziel,
der niemand's Knecht ist, niemand's Herr.

Ich hab' ein zärtliches Gefühl
für den, der seinen Mund auftut,
der Gesten gegenüber kühl
und brüllt, wenn's ihm danach zumut.

Ich hab' ein zärtliches Gefühl
für den, der sich zu träumen traut,
der, wenn sein Traum die Wahrheit trifft,
noch lachen kann, wenn auch zu laut.

Ich hab' ein zärtliches Gefühl
für jede Frau, für jeden Mann,
für jeden Menschen, wenn er nur
vollkommen wehrlos lieben kann.

I've got a tender feeling

I've got a tender feeling
for every washout, every fellow,
who is roaming about in freedom without a destination,
who is nobody's slave, nobody's master.

I've got a tender feeling
for anyone who opens his mouth,
who is cool against gestures
and who shout's when he feels like that.

I've got a tender feeling
for anyone who dares to dream,
who, when his dream meets reality,
still can laugh, even if it's too loud.

I've got a tender feeling
for every woman, for every man,
for every human being, if only
perfectly defenceless he/she can love.

(Translation by Matthias Kaldenbach)



Weißt Du, wie es war

Weißt Du, wie es war, als wir beim Antiquar
das Büchlein fanden "Tausend weise Sprüche"?
Mir fällt einer ein, der paßt dort gut hinein:
"Mit der Zeit geht alles in die Brüche".

Weißt Du, wie wir früher abends schnell zum Baden gingen?
Schwarz war der See und kein Mensch in der Näh';
und kaum angekommen, sind wir weit hinausgeschwommen,
wollten vor Glück nicht ans Ufer zurück.

Bleib doch einmal steh'n, laß Dir in die Augen seh'n!
Sonderbar, Du stellst nicht einmal Fragen.
Alles, was ich fühl' ist Dein Blick, der kalt und kühl
meinem ausweicht: Nein, es gibt nichts mehr zu sagen.

Alles, was gewesen, zwischen uns gewesen, Du,
das stößt Du allmählich von Dir ab, Stück um Stück.
1960 war ich nichtmal 20, Du!
Das Rad unsrer Liebe dreht niemand zurück.

"Es war wunderbar" ist Dein letzter Kommentar,
und ich weiß, es wird jetzt Zeit für mich zu gehen.
Ist es mal vorbei, dann wird alles einerlei -
irgendwo kann ich Dich ja verstehen.

Weißt Du, wie wir früher abends schnell zum Baden gingen?
Schwarz war der See und kein Mensch in der Näh';
und kaum angekommen, sind wir weit hinausgeschwommen,
wollten vor Glück nicht ans Ufer zurück...



Träume

Du hast nichts verdient, und Du hast nicht Geburtstag,
Du hast auch schon alles, was man sich denkt.
Und doch hab' ich noch eine kleine Überraschung:
Du bekommst heut' von mir meine Träume geschenkt.

Träume, die keimen im Schatten des Innern,
entstanden aus Freude, aus Glück und aus Pein.
Ein Funken Verlangen - ein Teil unseres Ichs,
den einzugesteh'n wir uns selten verzeih'n.

Ein Traum für ein Kind, das nur darum zur Welt kam,
weil seine Eltern sich einmal versah'n,
das groß wird und lernt, daß die Arbeit das Höchste,
und vor lauter Arbeit gar nichts andres mehr kann.

Träume für einen, der nachts mit dem Schlaf ringt;
ein Traum für den Mann, der sein Leben geweiht,
im Wettstreit der Erste, der Beste zu werden,
der alles schon hat, bis auf ein bißchen Zeit.

Zeit für den Haselnußstrauch, früh im Frühjahr -
ein lichtgrüner Traum von einem blühenden Baum!
Träume wie Tau auf feuerroten Äpfeln,
wie bebende Küken im flauschigen Flaum.

Du hast nichts verdient, und Du hast nicht Geburtstag,
Du hast auch schon alles, was man sich denkt.
Ein Tag wie ein Zweig auf dem Tisch in der Vase.
Uns're Umarmung - ist das kein Geschenk?