Zwischen Mythologie und Melancholie
(me/sounds, Februar 1996)


Irisches Tagebuch

Keine Frau wie jede andere. "lch habe harte Zeiten hinter mir", sagt Tori Amos (32). Doch Selbstmitleid sucht man bei der Songschreiberin aus den USA vergebens. Miese Erfahrungen spielt sie sich einfach von der Seele - wie jetzt in der Einsamkeit Irlands.


Hat sich die romantisch-melancholische Stimmung Irlands auf deine neue Platte ausgewirkt?

Die Idee bei 'Boys For Pele' war: Wenn ich ein Teil des Ganzen bin, bin ich auch ein Fragment der Umgebung, in der ich mich befinde. Also nehme ich als Teil des Ganzen ihre Energien auf. Hier in Irland mußt du nur zwei Meter tief graben und stößt auf keltische Mythen, auf Gegenstände, die aus mehr als 2000 Jahren erzählen - von alten Ritualen, vom Verständnis der Erde gegenüber, von der individuellen Erinnerung der Menschen und ihrer Art der Kommunikation. Ich wollte die Fähigkeit entwickeln, dies alles zu fühlen.

Wie drückt sich das auf dem aktuellen Album aus?

Nun, ich wollte mein geliebtes Klavier klingen lassen. Wenn ich live spiele, sind meine Songs sehr kraftvoll. Du erlebst den Sound des Klaviers im Bauch, fühlst förmlich das Holz, siehst die Männer, die die Bäume dafür geschlagen haben. Das wollte ich auf dem Album rüberbringen.


Hast du deshalb deine CD in einer Kirche aufgenommen?

Ja. Die gesamte Platte entstand in einer kleinen Kirche in Dougany, direkt an der südirischen Küste. Dort herrschte eine wirklich wunderbare Atmosphäre.


Hat dich die sakrale Atmosphäre bei den Aufnahmen beeinflußt?

Ganz sicher sogar. Der rote Faden aber, der sich durch die Platte zieht, ist ein anderer. Auf 'Boys For Pele' geht es darum, inneres Feuer zu stehlen.


Welches innere Feuer denn?

Pele ist der Vulkan-Gott auf dem Berg Mouna Kea auf Hawaii. Ihm ist diese Platte gewidmet. Trotzdem geht's um mich. Ich habe immer das Feuer aus meinen Beziehungen gestohlen, habe Sachen genommen, die ich für meine eigene Entwicklung brauchte. Doch am Ende einer siebenjährigen Beziehung war ich am Boden zerstört. Alles brach unter mir zusammen. Diese Platte ist daraus geboren. Mit ihr will ich mein eigenes Feuer wiederfinden.


Das klingt stark nach einer Form der Selbsttherapie

Alles, was wir tun, ist auf irgendeine Art therapeutisch. Selbst wenn du einen Pilz-Taco ißt, hat das therapeutische Züge. Wenn dir das Öl die Mundwinkel runterläuft... it's fuckin' great!


Mag sein. Aber wie sehen deine Beziehungen zu Menschen aus?

Nun, im Grunde steckt eine Menge in allen Beziehungen, die ich bisher hatte - ob nun zu meinem Vater, zu Lehrern, Brüdern oder Freunden, ob zu Jesus oder Mohammed. Vor meiner letzten Liebesbeziehung gab es ein paar weitere Erlebnisse, und sie alle stecken in diesem Album. Ich habe harte Zeiten hinter mir, mit einer Menge mieser Erfahrungen. Einen Schritt zurück möchte ich nicht machen, aber die letzten eineinhalb Jahre will ich genausowenig noch einmal durchleben.


Zu deinem letzten Album 'Under the Pink' hast du gesagt, Rosa sei nicht nur eine Farbe mit Heilwirkung, die Farbe der Liebe, sondern auch die Farbe, die zum Vorschein kommt, wenn man in sein Inneres schaut. Wie sieht es derzeit in deinem Inneren aus?

Wahrscheinlich wie Tomatensauce (lacht). Ich weiß nicht. Vielleicht auch kobaltblau? Ich bin von Prismen fasziniert. Wenn du durch sie hindurchschaust, hast du eine ganz andere Sicht der Dinge. Ich wollte schon immer eintauchen und Sachen suchen, die unter der Oberfläche verborgen sind. So wird Licht plötzlich zu Farbe, werden Töne zu einem Lied. Aber wenn du einen Song hast, ist er doch nur Teil einer endlosen Frequenz.


Du hast deine Musik mal als einen bewußtseinserweiternden Trip aus Lavasca (Droge im südamerikanischen Regenwald/Red.) beschrieben. Ist 'Boys For Pele' die Fortsetzung der Reise?

Ja, obwohl ich sagen muß, daß der Hauptaspekt der neuen Platte auf der Intimität zwischen Männern und Frauen liegt, auf der Intimität zwischen dem Femininum und dem Maskulinum in jedem von uns. Es geht um diese Kontroverse und was daraus entsteht.


In dem Song 'Professional Widow' heißt es an einer Stelle: "Just like my Daddy selling his baby" - bist du von deinem Vater zur Karriere gedrängt worden?

Nun, ein bißchen stimmt das sicher. Man muß immer aufpassen und darf sich nicht von Macht verführen lassen. Egal ob als toller Athlet, als bekannte Persönlichkeit aus der Politik oder ob als Top-Journalist. Stets geht es um Macht. Anstatt seinen Platz ständig behaupten zu wollen, sollte man lieber seine Position akzeptieren. Denn man sollte wissen, wo man steht.
Wenn ich an meine Kindheit denke, so hörte ich beim Nachhausekommen immer die Frage 'Hast Du gewonnen?' statt 'Hast du Spaß gehabt?'. Es ging nur darum, daß man nie gut genug war. Nie hieß es 'Ich habe dich lieb', sondern immer 'lch habe dich lieb, wenn...'. Egal wie unterschwellig, es war die ganze Zeit über vorhanden. Deshalb suchte und suche ich seit jeher nach einer gleichberechtigten Beziehung zu einem Mann - was immer das nun auch in der Realität bedeuten mag.




Wie schaffst du es eigentlich, all die verrückten Ideen und eindringlichen Stimmungen umzusetzen - von der ersten Idee bis hin zum fertigen Song auf CD?

Laß es mich so sagen: Wenn du auf einen Tramp-Urlaub gehst, irgendwo in den Bergen, dann hast du eine Karte dabei, legst die Route fest und planst die nächsten Tage. Und was passiert? Alles mögliche, nur nicht das, was du dir vorgenommen hast. Du triffst neue Leute, ißt mit ihnen, trinkst Wein, sie nehmen dich auf eine andere Tour mit, und alle deine Pläne sind über den Haufen geworfen. Aber das ist egal. Denn du machst ja schließlich eine Reise und planst am besten ein, daß sich alle deine Pläne verändern können.


Würdest du denn das Album noch einmal genau so aufnehmen, wie es letztlich geworden ist?

So wie es geworden ist, drückt jeder Aspekt genau das aus, wofür er steht. Selbst wenn ich nur wenig verändert hätte, wäre die Platte automatisch anders ausgefallen. Nein, ich wollte das Album exakt so, wie es ist. Nur war es langsam an der Zeit, es fertigzustellen, denn das Baby wollte endlich geboren werden.


Du hast vor längerer Zeit eine Klavierversion von Nirvanas 'Smells Like Teen Spirit' aufgenommen. Wie kam es zu der Idee, gerade diesen Song zu covern?

Ich war damals in Schweden und sah Nirvanas Video im Fernsehen. Das Lied war damals relativ neu, und es bewegte einiges.
Ich hatte nie zuvor von Nirvana gehört. Aber ich fühlte ihr Engagement ihr Feuer. Und mein Klavier flüsterte 'Spiel das auf mir, drücke das aus, mache es ehrlich, und bringe es in eine Form die ich verstehe'. Also habe ich 'Smells Like Teen Spirit' auf mein Instrument übertragen, auf dieses Klavier das sehr alt ist und auf dem schon alle möglichen Werke gespielt wurden. Ich dachte, 'ich will mit diesen Akkorden spielen und dem Ganzen eine Freiheit auf meinem Instrument geben'. Es war meine Art des Dankeschöns an dieses Stück Musik.


Ein weiteres Dankeschön ging an Led Zeppelin. Auf einem Zeppelin Tribute-Album hast du 'Down By The Seaside' im Duett mit Robert Plant gesungen. Wurde da ein Traum für dich wahr?

Oh, Robert war echt süß, so was wie das ultimative Erdnußbutter-Sandwich (lacht). Mit ihm zu singen, war großartig. Er sagte nur 'Komm vorbei, und wir singen den Song zusammen'. Nach ein oder zwei Aufnahmen war der Titel dann schon im Kasten. Vorher haben wir nur ein bißchen geübt, aber komplett darauf verzichtet, irgendetwas zu analysieren. Die ganze Session hat nur etwa eine Stunde gedauert. Dann aßen wir zusammen, ich habe Robert umarmt und genoß den Nachmittag. Immerhin ein Nachmittag mit einem der Idole meiner Jugend.


Du hast im nachhinein gesagt, zu dieser Session hättest du vor lauter Respekt beinahe dein Konfirmationskleidchen angezogen.

Ich entschied mich dann doch, Robert als erwachsenes Mädchen entgegenzutreten (lacht). Das war, bevor ich auf meine Klein-Mädchen-Entdeckungsreise ging, etwa vor eineinhalb Jahren. Damals hatte ich eine klare Selbstanalyse im Kopf.
Seitdem habe ich mich verändert. Ich wollte mich nicht mehr zu Männern auf den Schoß setzen und mir den Kopf streicheln lassen wie mit 10. Ich dachte 'das hast du endgültig hinter dir'.


Etwas, das du ebenfalls hinter dir hast, sind die anfänglichen Vergleiche mit Kate Bush.

Bis zum heutigen Tag habe ich davon nicht viel gehört. Daher denke ich, daß solche Vergleiche der Vergangenheit angehören. Die Leute sehen Kate und mich mittlerweile als eigenständige Künstlerinnen und lassen demzufolge auch jede von uns beiden ihren eigenen, ganz persönlichen Weg gehen.


Dein ganz eigener Stil tritt auf einem der neuen Stücke namens 'Father Lucifer' ganz besonders deutlich zutage. Worum geht es in diesem Song?

Als Pfarrerstochter wuchs ich mit einer Menge Tabus auf. Dinge, die ich in meiner Arbeit nun nach und nach auflöse. In dem erwähnten Song habe ich bei einer Tasse Tee einen Plausch mit Luzifer. Ich bin ja sehr an Mythologie interessiert. Satanismus und all dieses Zeug zerstören und pervertieren jedoch die im Grunde weiße, also positive Energie der Mythologie. Ich rede in diesem Zusammenhang von der Kraft, die pure und reine Dunkelheit in sich birgt. Wenn ich 'rein' sage, dann meine ich, daß Schatten Licht definiert. Und das ist weder gut noch schlecht. In der reinen Dunkelheit fand ich als Frau jenen Teil von mir, der lange Zeit unterdrückt wurde. Ich wollte eine intelligente, respektierte Frau sein, wollte die gleiche Kraft haben wie meine männlichen Zeitgenossen. Mir sollte zugehört werden, und ich wollte fähig sein, für mich allein zu denken. Denn als Frau gab es für mich bestimmte Dinge, die ich stets unterdrückt hatte, nur um meinen Platz in der Hierarchie zu finden - meine Leidenschaft, meine Freiheit. Diese Dinge wollte ich wiederfinden und nach Hause bringen. Es ging also darum, mich zu finden, mich zu verändern und all das in irgendeiner Form ans Tageslicht zu bringen.


Was hast du gefunden?

Leidenschaft, Leidenschaft, Leidenschaft.


Drückt diese Leidenschaft sich unter anderem darin aus, daß 'Boys For Pele' viel mehr Grooves aufweist als frühere Werke?

Nun, ich bin halt eine Frau geworden. Ich beziehe das nicht auf Sex, aber auf Sensibilität, Leidenschaft und Anteilnahme. Und für all diese Dinge brauchst du eben einen guten Groove. Du mußt lernen zu swingen, den Rhythmus zu fühlen und zuzulassen, daß dich dieser Rhythmus mitreißt.


Hast du einen Lieblingssong auf der neuen Platte?

Du kannst die Stücke nicht voneinander trennen, das ist vollkommen unmöglich. Außerdem habe ich das Album ja gerade erst fertiggestellt. Daher sind mir im Moment alle Songs gleich wichtig.


Hat es dir dementsprechend schlimmere Kopfschmerzen bereitet, die Reihenfolge der Songs auf dem aktuellen Album festzulegen?

Und ob! Die Reihenfolge zu bestimmen, war ein riesiges Problem. Es gab Nächte, in denen hörte ich die Stücke immer und immer wieder - und jeder der Songs sagte auf seine Weise 'Hey Honey, ich bin Nummer soundso auf der Platte, und wenn du es wagst, mich hinter diesen anderen Song zu stellen, dann gibt's gewaltigen Ärger'. Aber im Ernst: Diese Lieder haben ein unglaublich starkes Eigenleben. Sie besuchen mich seit langer Zeit, weil sie wissen, daß ich ihnen zuhöre. Denn ich bin von ihnen fasziniert. Ich bete sie richtiggehend an. Immerhin existieren alle schon eine lange Zeit in meinem Inneren. Aber erst jetzt war ich in der Lage, sie ihrer Bedeutung entsprechend musikalisch umzusetzen.


Und Song Nr. 28 redet jetzt nie wieder ein Wort mit dir?

Wohl kaum, denn dieses Lied kam und sagte 'Ich beschließe diese Platte, vertrau' mir. Das ist mein Platz, am Ende der Reihe'. (lacht)
Der erste und der letzte Song - als ich sie aufnahm, wußte ich sofort, wo sie plaziert werden wollten. Aber die restlichen Songs? Mein Gott, viele Stücke machten Spaß, aber sie waren auch zickig. Sie sagten 'Du kannst mich weder an den Anfang noch ans Ende der Platte stellen, denn die Leute brauchen mich in der Mitte des Albums'.


Wie siehst du die neue Platte in ihrer Gesamtheit? Steht sie in der Tradition ihrer Vorgängerinnen?

'Little Earthquakes' war wie ein persönliches Tagebuch. 'Under The Pink' hingegen ist eher als ein impressionistisches Gemälde zu sehen. Die neue Platte trägt Züge von beiden - Kräfte, die zusammenfinden oder sich trennen, die miteinander streiten, sich erneut finden um dann doch wieder eine Trennung zu vollziehen. Das Album erinnert mich an einen Vulkan, der im Inneren brodelt und kocht.


Du empfindest die Platte als eine Art Reise. Welchen Weg soll dabei der Zuhörer einschlagen?

Das möchte ich offenlassen. Jeder soll seine eigene Reise antreten, wenn er meine Songs hört. Ich kann doch nicht allen Leuten ein Fax schicken, um ihnen mitzuteilen, was sie empfinden sollen. Ich kann auch nicht von Tür zu Tür gehen und sagen 'dreht mal so und so laut auf, und hört mal genau hin'. Das würde ich zwar gern tun, denke dann aber 'sei nicht so ein Kontroll-Freak, Tori. Laß es!'.


Im März gibst du in Deutschland 'ne Reihe von Konzerten. Was können die Besucher in diesem Jahr von Tori Amos erwarten?

Ich möchte meine Empfindungen und Erfahrungen möglichst pur umsetzen. Klar, es werden auch ein paar Computer dabei sein. Aber mit denen kommt man viel problemloser zurecht als mit Gitarristen (lacht). Nein, meine Instrumente nehme ich natürlich mit. Ich will sie im Bauch spüren. Hoffentlich macht mein Cembalo dabei mit. Es ist nämlich ein bißchen sensibel, und manchmal fühlt es sich einfach nur krank. Wir versuchen momentan, es sanft darauf vorzubereiten, daß es eine längere Reise durch die Welt vor sich hat. Das Problem dabei ist: Wenn es auch nur ein paar Millimeter bewegt wird, schlägt das automatisch auf seine Stimmung.





Die neue Platte

BOYS FOR PELE
(Eastwest)

LITTLE EARTHQUAKES war für Tori Amos ein vertontes Tagebuch. UNDER THE PINK sah sie als impressionistisches Gemälde. Ihr drittes Album nun setzt den Zuhörer einem Wechselbad der Gefühle aus, ist seelisches Stimmungsbild und musikalischer Erlebnisbericht in einem. Das Ende einer Beziehung, Selbstanalyse und zurückgewonnene Lust am Leben - Tori Amos läßt nichts Persönliches aus. Das Resultat ist eine Platte von kaum zu überbietender Intensität. Doch bei aller atmosphärischen Dichte wartet BOYS FOR PELE doch mit klanglicher Abwechslung auf - vom romantisch verhaltenen Opener 'Horses' über den fröhlich verspielten 'Father Lucifer' und den todtraurigen 'Jupiter' bis hin zum gnadenlos groovenden 'Caught A Lite Sneeze'. Mal flüstert Tori verführerisch lasziv, mal singt sie geheimnisvoll verklärt, mal atmet sie so schwer, daß man um den nächsten Ton bangt. Und das, um schon im nächsten Moment alles aus sich herauszuschreien, was ihr auf der Seele brennt. Dabei bearbeitet die Amerikanerin ihren Konzertflügel in einer Weise, die vom Quanto possibile bis hin zum Fortissimo reicht. Und dann noch diese Texte. Kaum ein anderer Künstler reicht derzeit an Toris Iyrische Qualitäten heran. Die Songs, wo es paßt um Streicher, Bläser, Cembalo und Percussion angereichert, machen deutlich, wer Frau Amos bei ihrem Songwriting die Feder führt: die eigene Seele.

Stefan Woldach