Mit den Augen einer Frau
(Visions 1994)


Entrückte weibliche Traumwesen aus einer anderen Dimension scheinen auf Gottes Schöpfungsplan spärlich gestreut: Kate Bush, Sinead O'Connor, Penelope Houston, Anita Lane etc.. Seit vor ca. zwei Jahren Tori Amos mit ihrem Album "Little Earthquakes" ein mittelgrosses Erdbeben evozierte und fortan nicht nur Chef-Chaot Lohrmann mit ehrfürchtig leiser Stimme von jener Neuentdeckung schwärmte, darf diese Liste getrost um einen weiteren Namen ergänzt werden. In ihrer filigranen Art, ihrem stark erotischen Bewußtsein und den betörenden feingesponnenen Melodiebögen, ließ Tori der eigenen, durch und durch weiblichen Songschreiberseele freien lauf: Nichts blieb unbedeckt, geschweige denn unbekannt. Mit "Under The Pink" führt sie diese intime Selbstentblößung weiter ins Extreme und benutzt Musik lediglich als Hilfsmittel für eine schonungslose Reise in das Innere ihrer Persönlichkeit. Diese Offenbarung von Gefühlen eröffnet dem Hörer den Zugang zu den tiefsten Abgründen einer vielleicht radikalen, dafür umso ehrlicheren Frauen-Welt. Wir Männer empfinden die weiblichen Gedanken oftmals als verwirrend und sogar schockierend, wohingegen sie eine andere Frau als vollkommen normal ansieht. War "Little Earthquakes" noch von einer gewissen Naivität beherrscht, besitzt "Under The Pink" so viel Selbstbewußtsein und Stärke, daß der Mann spätestens jetzt erkennen muß, daß der biblischen Schöpfungsgeschichte ein gravierender Fehler unterlaufen ist.
So muß es fortan wohl eher lauten: "Als Gott den Mann schuf, übte sie noch."

"Tori schminkt sich gerade für die Photo-Session", erklärt uns die zuständige Promoterin. "Nehmt doch so lange Platz. Tori bevorzugt das kleine Sofa." Madame Schmidt und meine Wenigkeit haben es uns gerade gemütlich gemacht, als sich die Tür zum Zimmer 201 des Hamburger Ramada-Hotels öffnet und eine bezaubernde Frau mit wehenden, feuerroten Locken hereinrauscht: "Hi, I'm Tori!", strahlt sie hinreißend schelmisch. Die Session scheint beendet und Toris Blick fällt auf das von mir mitgebrachte "Sandman"-Comic No. 41, eine wilde, witzige und gefährliche Geschichte, in der jener jüngere Bruder des Todes sein Unwesen treibt. Genau in dieser Ausgabe der Serie benutzt Autor Neil Gaiman einen Textauszug aus "Tear In Your Hand" vom "Little Earthquakes"-Album und sendet in der Thanx-List einen Gruß an Tori. In jenem Song findet man zudem fogende merkwürdigen Zeilen: "...me and Neil'll be hangin' out with the Dream King Neil says hi." Wir bitten um Aufklärung. Toris Augen funkeln, sie stützt ihren Kopf lachend mit den Ellenbogen auf dem Tisch auf, holt tief Luft, lehnt sich auf dem Sofa zurück und beginnt zu reden: "Neil und ich haben gewissermaßen ein Restaurant-Problem: Wir bekommen einfach nie ein gutes Essen serviert, wenn wir zusammen ausgehen. Wir haben wirklich jedesmal Pech. Dabei ist es gar nicht so, daß wir uns keine guten Restaurants aussuchen. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, nehmen wir uns vor, es diesmal endlich zu packen. Aber was immer wir versuchen, nichts scheint zu helfen. Anfangs haben wir in unserer Verzweiflung sogar den Kellner gefragt, ob er uns etwas empfehlen könnte", erzählt sie schmunzelnd. "Neil bedrängte mich immer, etwas für ihn zu tun, also habe ich das Vorwort zu dem Sandman-Sammelband "Death: The High Cost Of Living" (auf deutsch: "Sandman Spezial Nr 1: Der Preis des Lebens", Feest-Verlag) geschrieben. "

Doch wie haben sich die beiden kennengelernt? "Über einen Freund von mir. Vor ein paar Jahren, als ich noch in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend nahe dem Hollywood Boulevard wohnte und gerade "Little Earthquakes" schrieb, suchte dieser Freund einen Platz, an dem er für zwei Wochen unterkommen konnte. Er nistete sich bei mir ein, überflutete meine winzig kleine Wohnung mit Hunderten von Kerzen, malte und weckte mich bisweilen um drei Uhr in der Frühe mit einem freundlichen: "Tori, it's creative time...". Indem er mir Musik, wie beispielsweise Nine Inch Nails, vorspielte, die mir bis zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannt war, hat er mich sehr inspiriert. Durch sie wurde ein bisher unentdeckter Teil von mir lebendig. Irgendwann brachte er mich dann zu Neils Comic "Sandman", das mich auf irgendeine Weise ansprach. So stammt mein erster Eindruck aus der "Caliope"-Story, in der ein Schriftsteller eine der griechischen Musen gefangenhält. Diese Vorstellung faszinierte mich: Eine Muse zu brauchen, eine Muse zu sein; welche Kraft es einem abverlangt, wieder zu schreiben und wieweit man deshalb gehen kann. Deshalb las ich all seine Arbeiten. Irgendwann nahm mein Freund dann eine meiner Aufnahmen zur größten Comic-Convention der Welt in San Diego mit, wo er sie Neil samt meiner Telefonnummer in die Hand drückte. Eines Tages dann, erreichte mich in London ein Anruf: "Hallo, könnte ich bitte Tori Amos sprechen?" - "Ja, das bin ich." - "Hier ist Neil Gaiman, ich habe ein Tape von dir bekommen. Hast du schon mal darüber nachgedacht, etwas mit deiner Musik anzufangen? Ich denke nämlich, sie ist ziemlich gut." Ich habe ihm also klargemacht, daß ich schon daran dachte, "etwas damit zu tun" und daß ich mittlerweile einen Plattenvertrag in der Tasche hätte. Auf diesem Wege wurden wir gute Kumpel."

Ihr Kuckucks-Freund blieb ihr selbstverständlich erhalten. "Er zog zwar später bei mir aus, dennoch haben wir nach wie vor Kontakt. Als ich vor kurzem in den Staaten zwei Videos gedreht habe, kam er extra von Washington State herübergeflogen." Mit einem Lächeln fügt sie hinzu: "Er kommt aus dem Grunge-Land, dort ist er aufgewachsen. - Im Video zu "God" geht es um verschiedene Rituale, deshalb krabbeln in einer Sequenz 140 Ratten über meinen Körper. Als er das sah, schrie er entsetzt: "Mein Gott, das ist totaler Wahnsinn. Ich kann einfach nicht glauben, daß du DAS mitmachst." Mein Körper war über und über mit Rartenscheiße bedeckt und ich mußte erst eimal duschen gehen, damit die Schlangen aus der nächsten Szene mich nicht für einen Nager hielten. "

In der Zwischenzeit nahm sie in Zusammenarbeit mit Komponist Trevor Hom den Song "The Happy Worker" für Barry Levinsons abendfüllenden Film "Toys" auf. Darin rettet Robin Williams als Peter Pan im Spielzeugland Kinderglück und Plastikenten - ein pazifistisches Märchen über brave Spielzeug-Onkels und die finsteren Machenschaften eines kriegslüstemden Generals. "Ich hatte noch nie zuvor mit Trevor gearbeitet und so mußten wir erst einmal schauen, was dabei herumkommt. Als wir dann merkten, daß das Feeling stimmt, haben wir ein Demo produziert. Als es aber darum ging, das Album aufzunehmen, hat Trevor im Nachhinein ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung eine Menge am Original geändert. Und das, obwohl ich die ursprüngliche Version wirklich sehr, sehr gerne hatte und sie für mich immer etwas besonderes darstellte. Genau deshalb spreche ich nicht gerne über diese Angelegenheit." Auf "Little Earthquakes" singt Tori in "Silent All The Years": "...so you found a girl who thinks really deep thoughts what's so amazing about really deep thoughts..." Und auf dem Promozettel zu "Under The Pink" erklärt sie: "Ich halte mich nicht für einen seltsamen Menschen. Ich betrachte mich lediglich als ehrlich. So bin ich nun mal, und die Wahrheit interessiert mich maßlos." Trotzdem weckte der Text zu "The Waitress" Unverständnis und vermittelte das böse Gefühl, das Zeilen wie "So I want to kill the waitress. She's worked here a year longer than I. If I did it fast you know that's an act of kindness..." aus einer völlig fremden Vorstellungswelt stammen. "Ich denke, daß Frauen diesen Song verstehen. In vielen Ländern kommen sie auf mich zu und bedanken sich für das Lied", lächelt sie einmal wissend zu Melanie hinüber, die ebenso verschwörerisch zurücklächelt. Ich dagegen war ziemlich schockiert über den Text." (lacht) Das liegt wohl daran, daß die Männer sich nicht über die unterschwellige Gewalt, die zwischen Frauen herrscht, bewußt sind. Es existiert eine Art Geheimbund zwischen Frauen und wenn ich dir erzählen würde, was allein auf der Damentoilette abgeht, wärst du wahrscheinlich ernsthaft schockiert. Zwar ist diese Spannung nicht immer vorhanden, es ist aber ein Teil unserer Mentalität. Nimm als Beispiel mal eine Party: Die Gesellschaft sitzt an einem Tisch, es gibt Wein, das Essen wird serviert und man ist gerade dabei, die Vorspeise einzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt hat eine Frau bereits eine andere, die ihr gegenübersitzt, ausgelöscht, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Knochen zerfallen einfach so zu Staub. Es ist eine ganz andere Welt, von der die Männer nichts wissen. Männer bleiben mit ihren Gedanken oft mehr auf den Boden der Tatsachen und sind nicht so verschlossen oder verbergen ihre Gefühle. Frauen dagegen gehen oft nach einem geheimen Plan vor und arbeiten auf verschiedenen Ebenen. Indem sie sich z.B. als die allernetteste und süßeste Person auf der Welt geben, erreichen sie das, was sie vorhaben. Aber glaub mir, andere Frauen durchschauen das, nicht wahr?" Und wieder schenken sich die beiden ein wissendes und ein wenig mitleidiges Lächeln." Die Welt der Frauen kann oft sehr boshaft sein, aber sie ist gleichzeitig auch voller Liebe. Frauen können so hilfsbereit sein, daß sie sogar für andere Frauen in den Tod gehen würden. Wenn jemand deine Freundin verletzt, würdest du ihn töten, ohne darüber nachzudenken - gar kein Problem. Wendet sich aber die gleiche Freundin gegen dich, für die du die Hand ins Feuer legen würdest, kann das schrecklich vernichtend sein."

Melanie und Tori scheinen mit einem gequälten Blick ihre leidvollsten Erfahrungen auszutauschen, während ich verzweifelt versuche, Zugang zu finden. "Es gibt viele verwickelte Beziehungen zwischen Frauen - Verrat, Schwesternschaft, Kammeradschaft, usw.. "Cornflake Girl", "The Waitress" und "Bells For Her" beschäftigen sich damit." Zu "Cornflake Girl" hat sie Alice Walkers Roman "Possessing The Seeret Of Joy" inspiriert. Es geht, laut Toris Aussage, darum, wie Frauen einander verraten und um all die verlorenen Illusionen, wenn jemand von einem Lager ins andere gewechselt ist. Die "Cornflake-" und "Rosinen-Mädchen" repräsentieren dabei die beiden Möglichkeiten, geistig offen oder aber engstirnig zu sein." In diesem Buch gibt es eine Geschichte, die davon handelt, wie Mütter ihre Töchter zum Metzger bringen, um ihnen die Genitalien herausschneiden zu lassen. Das brachte mich dazu, über die alte chinesische Tradition nachzudenken, Mädchen die Füße zu wickeln und in bestimmten Abständen die Fußknochen zu brechen. Dadurch bleiben die Füße möglichst klein und zierlich und der Gang trippelnd, was als attraktives weibliches Attribut gilt. All die Qualen werden durch eine Anordnung des Patriarchats legalisiert und von den Müttern ohne Widerstand akzeptiert. Nur wer die Schmerzen über sich ergehen läßt, wird von der Gesellschaft anerkannt. Auch das Buch handelt von dieser Thematik, von diesem unfaßbaren Schmerz, den Mütter ihren Töchtern zufügen können. Dieser bleibt, egal ob sich nun im Laufe der Geschichte die Mütter ihrer Handlung immer bewußter werden und sich die Gegebenheiten ändern. Das öffnet natürlich der Vorstellung Tor und Tür daß dich eine Freundin eines Tages verraten kann, der du maßlos vertraust Und glaub mir, dieser Verrat stellt die tiefste Wunde dar, die man einer anderen Person zufügen kann. Der Song handelt über Lebenserfahrungen, darüber, wie äußere Geschehnisse dein Inneres beeinflussen können." Dabei hält Tori nichts von der Einteilung in Gut oder Böse und der Vorstellung, daß Frauen stets die "Guten" und Männer stets die "Bösen" seien: "Es ist verdammt gefährlich, wenn man seine gewalttätige Seite als böse verurteilt. Das entspricht nicht der vollen Wahrheit, denn diese Seite eines Menschen ist natürlich und Wut ist ein ehrliches Gefühl. Wut kann ein Lehrmeister sein, wenn du wirklich versuchst zu verstehen, was sie dir beibringen will. Allerdings wird sie unkontrolliert freigesetzt und wirkt destruktiv, wenn du dich nicht mit dem beschäftigst, was dich in Rage versetzt. Wächst du mit dauernden Beschimpfungen auf, mußt du erst diese Wunde öffnen und all das Gift herauslassen. Dazu mußt du dir aber erst im klaren sein, auf welche Art und Weise du verletzt worden bist. Die Wut, daß du dich nicht gewehrt hast, weil du nicht wußtest, wie, kann sehr schmerzhaft sein. Ein gewisses Maß an Vergebung und Verständnis aber muß gegeben sein. Man darf nicht einfach Charaktere entwickeln, um mit diesen Erlebnissen leben zu können. Nimm beispielsweise ein Mädchen, das masturbiert, um ihre Sexualität zu behalten. Ihre Umgebung hat ihr nämlich beigebracht, daß Leidenschaft etwas Unanständiges ist. Wie soll sie Zuneigung für Gott und ihre Arbeit entwickeln, wenn sie ihre eigene Sinnlichkeit nicht ausleben darf? Statt diese Gefühle zu durchleben, werden sie verurteilt - Du kannst die Gewalt anderer Menschen nicht verstehen, wenn du die Gewaltätigkeit in dir selbst nicht erkannt und akzeptiert hast. Es ist so einfach, zu sagen: "Diese Person ist schrecklich, ich kann dem kein Verständnis entgegenbringen. Denkt man auf diese Art und Weise, wird man nie eine Heilung erreichen." Und Tori weiß, wovon sie spricht: "Vor einigen Jahren wurde ich vergewaltigt - ich mußte diese schreckliche Gewalt und den sexuellen Mißbrauch über mich ergehen lassen. In "Me And A Gun" vom "Little Earthquakes"-Album habe ich versucht, mich damit auseinanderzusetzen. Glaub mir, es hat mich wirklich lange Zeit gekostet, damit fertig zu werden. Ich verspürte einen großen Hass auf diesen Menschen und war auf mich selbst wütend, weil ich mich nicht zur Wehr setzen konnte.

Ich mußte erst einmal lernen, diese Gefühle zu rechtfertigen. Wenn jemand so viel Hass auf dich projiziert, verinnerlichst du diesen Hass. Ich habe versucht, meine Wut zu befreien, mein eigenes Wertgefühl wiederzufinden, damit ich wieder zu einer Beziehung fähig bin und diesen fürchterlichen Ekel vor jeder Berührung verliere. Wenn man die Liebe aus seinem Leben verbannt, verbittert ist und alle intimen Beziehungen von sich weist, zerstört man sich selbst. Aber warum? Man kann diese brutale Tat sowieso nicht rückgängig machen. Aber wenn man sie überlebt hat, kann man sich sagen: "Ich habe die Möglichkeit, mich zu entscheiden, wie ich mich selbst sehe, diese Wahl steht mir offen." Man merkt, daß es ihr immer noch schwerfällt, über diese Situation zu sprechen. Für Frauen gebe es prinzipiell nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Schuld bei sich selbst zu suchen oder aber dem Täter alles anzulasten. Doch statt die Schuld dem Vergewaltiger zu geben, verdammen sich viele Opfer selbst. "Dazu muß ich aber auch den Teil meiner selbst betrachten, der gewaltätig ist. Es geht also nicht um die Einteilung in Gut und Böse, es geht vielmehr um das Verständnis gegenüber den verschiedenen Seiten der Persönlichkeit." So spiegelt sich dieses neugewonnene Selbstbewußtsein wider und Tori bestätigt, daß sie das Vorgängeralbum gebraucht habe, um nun "Under The Pink" zu schreiben. "Je mehr man dazu fähig ist, eine Hand vom Gesicht zu nehmen, um endlich einen Blick zu riskieren, desto mehr Erfahrungen und Eindrücke kann man sammeln. Man sieht Dinge, die schon immer vorhanden waren, die man aber bisher nie wahrgenommen hat. Man wird sich seiner sicher und erfährt mehr über die eigene Persönlichkeit. Das ist ein endloser Prozeß." Bist du froh, in dieser Männerwelt eine Frau zu sein? "Du mußt dich einfach so akzeptieren, wie du bist. Wenn man sich nicht mit seinem Geschlecht anfreunden kann, verfällt man in Depressionen. Egal, ob man eine Frau oder ein Mann ist, in jedem stecken diese beiden Seiten.

Wenn die Menschen von der weiblichen Seite sprechen, die bisweilen hervorbricht, so geht es dabei nicht einfach um Frauen, sondern um die Weiblichkeit im Allgemeinen, um die Natürlichkeit. Ich versuche, immer die Balance zwischen diesen beiden Seiten zu finden." Wie im Traum ist die Interviewzeit abgelaufen, doch im April gibt es ein Wiedersehen, wenn Tori samt ihrem Klavier auf Reisen geht. "Ich freue mich übrigens darauf, ein Baby zu bekommen. Nach der Tour werde ich das vielleicht in Angriff nehmen", lächelt sie zufrieden und siegesbewusst.