Anmut, Gefühl & Leidenschaft
(Visions 1992)


Wenn man die letzten Jahre einmal Revue passieren läßt, stellt man fest, daß lediglich einige wenige Alben außergewöhnlich und bewegend zugleich waren. Doch selbst hier nimmt "Little Earthquakes" eine Sonderstellung ein. Noch nie zuvor gelang es einer Künstlerin auch nur annähernd, Schönheit und Anmut, Gefühl und Betroffenheit so intensiv darzustellen wie Tori Amos.
Und live bewies die in London lebende Amerikanerin auf ihrer in März stattfindenden Tournee, daß Konzerte mehr als nur Konzerte sein können. Mit einer unbeschreiblichen Intensität fesselte die rothaarige Schönheit ihr Publikum, ließ es in einen Dämmerzustand verfallen, aus dem man nach dem Konzert in die rohe Wirklichkeit entlassen wurde. Die Umgebung verschwand, man sah lediglich eine Frau und Ihr Klavier, wurde Zeuge eines außergewöhnlichen Ereignisses. Und als bekannt wurde, daß sie im Juni erneut für drei Konzerte nach Deutschland kommen sollte, kam es in Frankfurt zu diesen Interview. Einem Interview, daß drei erwachsene Wesen zu ganz jungen Teenagern werden ließ, die ihre CD signieren ließen und von einem elfenähnlichen Wesen verzaubert wurden. Und auch wir erlebten diese kleinen Erdbeben.



Viele nahmen an, daß "Little Earthquakes" Dein Debut ist, allerdings gibt es da noch ein Album welches unter dem Bandnamen "Y Kant Tori Read" firmiert. Was hat es damit auf sich?

Kennst du das Layer? (es zeigt Tori als Metal-Amazone, vergleichbar mit Lee Aarons's "Metal Queen"-Cover). Ich wünschte, die LP würde so klingen, wie das Cover aussieht. Die Platte ist einfach nicht heavy. Sie besitzt keine klare Aussage. Ich meine, wenn jemand Thrash Metal spielt dann hat es einen Standpunkt. Und selbst wenn dieser Thrash aus nichts anderem als Lärm besteht, hat es einen Standpunkt. Das sollte eigentlich Sinn und Zweck jeder Veröffentlichung sein. Beziehe einen Standpunkt, willst Du Krach machen, mach' es, willst Du einfach nur cute sein ist es auch o.k. Aber zu der Zeit, als das Album entstand, war ich einfach nicht in der Lage, einen Standpunkt zu beziehen. Hätte ich einen Standpunkt beziehen müssen, hätte ich mich mit mir selbst auseinandersetzen müssen, aber ich war einfach noch viel zu sehr damit beschäftigt, Sachen wie die Vergewaltigung zu verdrängen. Ich konnte nicht darüber singen. Ich war erst im August letzten Jahres in der Lage, "Me And A Gun" zu schreiben, vorher war es einfach nicht möglich. Als wir vor fünf Jahren anfingen, die Platte aufzunehmen, da lag die Vergewaltigung erst ein Jahr zurück. Die Platte erschien und starb vor vier Jahren. Schlagzeuger der Band war übrigens Matt Sotrum, produziert hat Joe Ciccarelli (u. a. Pat Benatar) und ich mochte seine Produktionen wirklich, aber kurz vor den Aufnahmen zerbrach die Band, wir nahmen Studiomusiker und dadurch verloren die Songs ihre Richtung. Ich denke, daß die Platte ihre Momemte hat, aber ich habe zu stark versucht 'Everybody's girl' zu sein, denn ich war eben nicht in der Lage, auf mich selbst zu hören. Du mußt ganz einfach stark sein und nicht nur so tun. Es ist einfach, ein 'tough chick' zu spielen, aber eigentlich ist das doch langweilig und vor allen Dingen traurig, denn es zeigt eine tiefe Unsicherheit, und wenn du unsicher bist, kannst du nicht stark sein."


In "Girl" benutzt Du die gleiche Thematik. Du singst über ein Mädchen, daß jedem gefallen will. Ist der Song eine Selbsterfahrung?

"(lächelnd) Unglücklicherweise ist die gesamte Platte über Selbsterfahrungen, vergleichbar mit dem Häuten einer Schlange. Als ich dreizehn war, da habe ich noch an Feen und andere spirituelle Dinge geglaubt, war in meine eigene Vorstellungswelt versunken, glaubte an die 'unseen world' was ich auch heute noch tue. Aber mit der Zeit begann ich mich wie ein Dummkopf zu fühlen. Ich meine, wenn du Dope rauchst, ist das vielleicht normal, aber so? Du sitzt im Englischkurs und unterhältst dich mit einer Fee. Das wollten die Leute nicht verstehen, und wenn du 13 bist, willst du nicht ewig nur belächelt werden. Also begann ich den Part in mir zu zerstören, der eigentlich sehr kreativ ist. Statt dessen wurde ich sehr zynisch, verstellte mich, um populär zu werden, von jedem geliebt zu werden. Aber eigentlich war das nichts anderes als ein Versteckspiel. Du kannst ein Großmaul sein ohne etwas zu sagen zu haben. Jedenfalls hatte ich zu dieser Zeit nur den Wunsch, ein 'In-Chick' zu sein. Heute weiß ich, daß du deine eigenen Gedanken haben solltest und deine Meinung vertreten mußt. Ich akzeptiere heute, daß mich die Menschen nicht alle mögen können, das ist in Ordnung. Vor kurzem habe ich einige der Lieder, die ich damals schrieb, erneut gehört, und es war sehr interessant. Es gab einige wirklich gute Ideen in den Songs, textlich zwar nicht, schließlich hatte ich als 15jährige noch andere Vorstellungen. Du denkst ganz einfach anders, wenn du die Erfahrungen gemacht hast, aber die Musik war gut. Na ja, jedenfalls hatte ich mit 19 so viele Ablehnungen bezüglich meiner Musik erfahren, daß ich anfing, an meiner Musik zu zweifeln. Ich dachte, vielleicht haben die Leute ja recht, such' dir eine Band, spiel' Dance Music, im Moment sind wir an Heavy Metal interessiert etc. Am Anfang versuchte ich noch neue Dinge zu entdecken, und vielleicht etwas zu lernen, aber dann ließ ich mich auch von dem Virus des ewigen Fragens anstecken "Was hältst du denn davon?". Wenn du als kleines Kind immer Erfolg hattest, dann fragst du dich: wieso klatscht heute keiner mehr? Du wirst so süchtig nach dem Geräusch von Beifall, daß du dein Selbstvertrauen verlierst und dich fragst, was du falsch machst. Und dann beginnst du dich selbst zu überzeugen, daß das, was dir die Leute erzählen, richtig ist. Jedenfalls war es eine unglaublich positive Erfahrung, als ich mich wieder an mein Piano setzte und ich selbst war. Ich brauche mich heute nicht mehr zu verkaufen, in gewisser Weise war die erste LP so etwas wie die Vergewaltigung meiner Seele. Die Musik liegt mir mehr am Herzen als alles andere, und es war mit Sicherheit eine gute Erfahrung mit Matt zu spielen, aber ich wünsche mir, ich wäre damals stärker gewesen und hätte nicht auf diese Idioten gehört. Heute erzählen Sie dir, wie toll deine Platte ist, und wenn dann die Verkaufszahlen ausbleiben, ist die gleiche Sache auf einmal Scheiße. Es ist ganz schön schockierend für die zu sehen, daß dieses Album sich so gut verkauft.


Wenn man die Reaktionen auf Deine Konzerte sieht, so sind viele der Zuschauer während des Konzertes total in sich versunken, andere (oftmals Frauen) finden Deinen Auftritt aufgrund Deiner Körperhaltung und Gestik für zu offensiv (Tori Amos unterstützt jede ihrer Bewegungen durch Gestik, unterlegt ihren Gesang mit Atmung und sitzt frontal dem Publikum gegenüber).

Ich bin nicht offensiv, das ist lediglich leidenschaftlich. Ich möchte meine Poen (???). Viele Frauen denken, wenn sie nicht intelligent sind oder ihre Leidenschaft zeigen, daß sie für Huren gehalten werden. Und um sich zu rechtfertigen, sitzen sie mit trockenen geschlossenen Beinen da und verurteilen mich dafür. Ich habe ein Gewissen, ein Herz, einen Geist aber auch meinen Sex. Ich bin ein sexuelles, emotionoles Wesen. Wenn man dieses Auftreten mit einem Wort beschreibt, würde ich Konfrontation als richtiges Wort sehen. Die Leute sollen sich verantwortlich gegenüber ihren Gefühlen zeigen, wenn sie das Konzert verlassen, denn das, was sie hinterher fühlen und denken, ist nicht mein Gefühl, es ist ihr Gefühl. Warum gibt es denn so viele Männer, die mich hassen, die mir die Kleider vom Leib reißen wollen oder sich einen runterholen, wenn ich "Me And A Gun" spiele? Wenn du zu meiner Show kommst, mußt du mich entweder ignorieren oder in dich selbst hineinschauen, hier gibt es nichts, was dich ablenken kann, da bin nur ich und das Piano. Du kannst dich verschließen, aber wenn du es nicht tust, dann werden Dinge in dir zum Vorschein kommen, über die du nicht gerne nachdenkst. Das müssen nicht unbedingt gute Gedanken sein, aber ich habe begriffen, daß Monster weder gut noch schlecht sind, sie sind einfach da. Es gibt Dinge in dir, die sind gut und wiederum andere, die sind schlecht. Manchmal bist du grausam, manchmal bist du das Opfer, manchmal bist du leidenschaftlich und manchmal nicht, was zählt, ist das ganze Wesen! Man kann einige Dinge einfach nicht ausgrenzen. Man muß für sein gesamtes Wesen Verantwortung zeigen. Versuch so viel wie möglich über dich selbst zu lernen und trage Verantwortung."


Kommen wir noch einmal auf Deine Texte und Deine Songs zurück. Von vielen Kritikern wurdest Du mit Kate Bush verglichen, doch wenn man Deine Shows besucht oder sich näher mit Deinen Texten befaßt, findet man ganz andere Helden. Coverversionen von "Whole lotta love", "Angie", "Thank You", Textzeilen wie 'Strawberry Fields' in "Happy Phantom", 'Even the wind cries your name' in "Mary".

"Was? Du kennst den Song? Ja es ist (???), wahr meine aus den Siebzigern, und sind hauptsächlich Männer, obwohl ich lieber die Sachen von Judy Garland, Barbara Streisand und Joni Mitchell (wovon man sich beim letzten Konzert in Stuttgart überzeugen konnte, wo es als letzte Zugabe "Somewhere Over the Rainbow" und "Moon" zu hören gab, wie sie betonte, das erste mal vor Publikum). Aber ich glaube, meine Vorliebe für männliche Musiker hat damit zu tun, daß ich immer Gitarristin werden wollte. Ich liebe es Piano zu spielen, aber ich mag es nicht, daß alle Menschen denken, daß ein Piano einen bestimmten Klang hat. Ich möchte diese Vorstellung ändern, so werden wir auf der nächsten Platte ein 'effected' Piano neben dem akustischen einsetzen, so daß wir in der Lage sind, Riffs zu spielen und das Piano an einen Marshall Amp anzuschließen. Ich möchte mich weiterentwickeln. (Und mit einem Lachen) Auf der nächsten Tour habe ich dann zwei Pianos und rolle mit dem Pianostuhl hin und her."


Was ebenfalls auffällt, ist Deine Art des Atmens, während Du die Worte singst.

"Die Stimme ist genauso ein Instrument wie jedes andere. Und das Atmen nimmt sehr viel Raum ein. Das Atmen hilft dir zu überleben und ich finde das Geräusch des Atmens sehr aufregend."


Zurück zu den Texten. Du benutzt sehr oft Farben zur Untermalung Deiner Texte, eigentlich typisches Gedankengut von jemandem, der gerade Drogen genommen hat.

"Meine Mutter ist Indianerin, und es gab mal eine Zeit, wo die Menschen die Pflanzen und die Erde als eine großartige Vision respektiert haben, und weder die Pflanzen noch die Erde mißbrauchten. Heute hat sich das grundlegend geändert. Selbst die Indianer haben angefangen, aufgrund ihrer Situation Mißbrauch zu betreiben. Wenn du heute ein Reservat besuchst, und ich habe viele Jahre in einem gelebt, dann findest du sehr viele Alkoholiker dort, was sehr tragisch ist. Aber viele glauben, daß das ein Ausweg ist, aber es macht sie unfähig zu denken. Es ist schlimm mit anzusehen, was aus vielen großartigen Menschen geworden ist. Heutzutage dienen Drogen größtenteils als Flucht vor der Realität und du bist in der Lage, andere Bewußtseinsebenen zu erleben und andere Dimensionen zu erreichen. Ich habe früher auch kontrolliert Drogen genommen um andere Dimensionen zu erleben, halt Pott geraucht, dabei Jimmy Page zugehört und gehofft, daß mich mein Vater dabei nicht erwischt, aber ich denke, daß das Teil deiner Teenagertage ist, vor allen Dingen wenn du die Sechziger und den Anfang der Siebziger miterlebt hast. Das war eine ganz andere Zeit, der Aufstand vieler Jugendlicher gegen das bürgerlich Normale. Ein Ausbruch von den Zielen, die einmal von den Eltern vorgegeben wurden. Der Versuch, etwas zu verändern. Ziele wie Humanität, die Emanzipation der Frau und auch die Gleichheit der Menschen, wie sie von Martin Luther King geprägt wurde. Und heute? Es scheint, als ob diese Leute aufgegeben haben, diese Ziele sind doch nur noch eine Karikatur ihrer selbst. Die Frauen haben ihr Ziel nicht erreicht, Humanität ist in der heutigen Gesellschaft ein Fremdwort und der Neger- und Ausländerhaß ist stärker denn je. Und dann siehst du den Extasy-Mißbrauch in London und merkst, daß diese Generation den ganzen Konflikt nicht begriffen hat. Was macht es für einen Sinn, sich dermaßen mit Drogen vollzuknallen, daß du gar nichts mehr merkst?"



Leider mußten viele Fragen unbeantwortet bleiben, wir hatten das Interview um zwanzig Minuten überzogen, ein anderes sollte folgen, und der Soundcheck ließ sich nicht aufhalten. Glücklicherweise, denn der Soundcheck war nichts anderes als ein 45minütiges Wunschkonzert, und was dann an den folgenden drei Abenden passierte, war unvergeßlich. Drei Konzerte, unterschiedlich in der Songauswahl, teilweise sehr spontan und stets so intensiv, daß einem kalte Schauer über den Rücken liefen, um im nächsten Moment von einer unbeschreiblichen Wärme gefangen genommen zu werden. Selbst beim Open Air in Hamburg kam diese Intensität herüber. Lediglich als Beiprogramm für Luka Bloom agierend, überzeugte sie das Publikum so sehr, daß der gesammte Zeitplan aus den Fugen geriet, sie hemmungslos weitere Zugaben spielen mußte und Luka Bloom sichtlich verzweifelt das Publikum bat, ihm doch auch noch ein wenig Beifall zu spenden. Diese Frau ist etwas ganz besonderes, ein Wesen, das man nicht in Worte fassen kann, Musik, die in ihrer Schönheit einfach nicht mehr greifbar ist. In einer Musikwelt, die durch ihre Berechenbarkeit immer mehr von der ursprünglichen Faszination verliert, kann man die Großartigkeit dieser Frau gar nicht genug hervorheben. Tori Amos ist einzigartig.

Holger Andrae / Ole Bergfleth / Karlo Radic