"Die Kunst des Liebens"
Erich Fromm 1956
Ullstein Verlag 1993
160 Seiten
in mehreren Verlagen erschienen
"Die Kunst des Liebens" von Erich Fromm hat mich in meiner
Jugend sehr fasziniert und beeinflußt.
Die folgende Zusammenfassung setzt sich ausschließlich
aus Originalzitaten zusammen, die in der Originalreihenfolge
belassen wurden. Absätze bedeuten Auslassungen ganzer Passagen.
Texte in eckigen Klammern erläutern den Inhalt ausgelassener
Teile oder liefern ergänzende Informationen bzw. Kommentare.
Obwohl hiermit sicher ein guter Überblick über den Inhalt
gegeben wird, möchte ich dennoch die Lektüre des
gesamten Buches sehr empfehlen. Sehr lesenswert ist auch immer
wieder "Haben oder Sein".
Ich möchte den Leser davon überzeugen, daß alle
seine Versuche zu lieben fehlschlagen müssen, sofern er nicht
aktiv versucht, seine ganze Persönlichkeit zu entwickeln, und
es ihm so gelingt, produktiv zu werden; ich möchte zeigen,
daß es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt
keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre
Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann.
Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist
etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man
verfällt.
Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr "aktiver" Charakter
zeigt sich auch darin, daß sie in allen ihren Formen stets
folgende Grundelemente enthält: Fürsorge,
Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.
Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum
dessen, was wir lieben.
Sich für jemanden "verantwortlich" zu fühlen, heißt
fähig und bereit sein zu antworten.
Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie
bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und
seine einzigartige Individualität wahrzunehmen. Achtung bezieht
sich darauf, daß man ein echtes Interesse daran hat, daß
der andere wachsen und sich entfalten kann.
Achtung gibt es nur auf der Grundlage der Freiheit: L'amour est
l'enfant de la liberté [Liebe ist ein Kind der Freiheit] heißt
es in einem alten französischen Lied.
Es gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt
der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt
zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes
Interesse transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich
ist.
Ich muß den anderen und mich selbst objektiv kennen, um sehen
zu können, wie er wirklich ist - oder besser gesagt um die
Illusionen, das irrational entstellte Bild zu überwinden, das
ich mir von ihm mache.
Parallel zum Problem, den Menschen zu erkennen, gibt es das
religiöse Problem, Gott zu erkennen.
Das Erlebnis der Vereinigung mit dem Menschen oder, religiös
ausgedrückt, mit Gott ist keineswegs irrational. Es ist ganz im
Gegenteil, wie Albert Schweitzer dargelegt hat, das Ergebnis des
Rationalismus in seiner kühnsten und radikalsten Konsequenz. Es
beruht auf unserem Wissen um die grundsätzlichen und nicht
zufälligen Grenzen unserer Erkenntnis, auf unserem Wissen
darum, daß wir das Geheimnis des Menschen und des Universums
nie "begreifen" werden, daß wir es aber trotzdem im Akt der
Liebe "erkennen" können.
Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis
stehen miteinander in engem Zusammenhang. Sie bilden ein Syndrom von
Einstellungen, die beim reifen Menschen zu finden sind, das
heißt bei einem Menschen, der seine eigenen Kräfte
produktiv entwickelt hat, der nur das haben will, was er sich selbst
erarbeitet hat, der seine narzißtischen Träume von
Allwissenheit und Allmacht aufgegeben und die Demut erworben hat,
die auf einer inneren Stärke beruht, wie sie nur echtes
produktives Tätigsein geben kann.
[Mutterliebe: Ich werde geliebt, weil ich bin]
[väterliche Liebe: Ich werde geliebt, weil ich mich richtig
verhalte]
[infantile Liebe: Ich liebe, weil ich geliebt werde]
[reife Liebe: Ich werde geliebt, weil ich liebe]
Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte
Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakter-Orientierung, welche
die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu
einem einzigen "Objekt" der Liebe bestimmt.
Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen,
so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem
anderen sagen kann: "Ich liebe dich", muß ich auch sagen
können: "Ich liebe in dir auch alle anderen, ich liebe durch
dich die ganze Welt, ich liebe in dir auch mich selbst."
Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde
liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein Gespür
für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und
"Erkenntnis", das jedem anderen Wesen gilt, sowie den Wunsch, dessen
Leben zu fördern.
Es ist geradezu kennzeichnend für sie, daß sie niemals
exklusiv ist. Wenn sich in mir die Fähigkeit zu lieben
entwickelt hat, kann ich gar nicht umhin, meinen Nächsten zu
lieben.
Die Mutterliebe ist, wie bereits gesagt, die bedingungslose Bejahung
des Lebens und der Bedürfnisse des Kindes.
An jedem Tag der Schöpfung sagt Gott eigens zu dem, was er
geschaffen hat: "Es ist gut!" Diese besondere Bestätigung gibt
in der mütterlichen Liebe dem Kind das Gefühl: "Es ist
gut, geboren worden zu sein." Sie vermittelt dem Kind die Liebe zum
Leben und nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben.
Die Mutter muß nicht nur die Loslösung des Kindes dulden,
sie muß sie sogar wünschen und fördern.
Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen; Mutterliebe ist
Liebe zum Hilflosen. So verschieden beide voneinander sind, ihnen
ist doch gemein, daß sie sich ihrem Wesen nach nicht auf eine
einzige Person beschränken.
Im Gegensatz zu diesen beiden Arten von Liebe steht die erotische
Liebe. Hier handelt es sich um das Verlangen nach vollkommener
Vereinigung, nach der Einheit mit einer anderen Person. Eben aus
diesem Grund ist die erotische Liebe exklusiv und nicht universal;
aber aus diesem Grund ist sie vielleicht auch die trügerischste
Form der Liebe.
Zunächst einmal wird sie oft mit dem explosiven Erlebnis, "sich
zu verlieben" verwechselt, mit dem plötzlichen Fallen der
Schranken, die zwischen zwei Fremden bestanden.
Häufig wird die Exklusivität der erotischen Liebe mit dem
Wunsch verwechselt, vom anderen Besitz zu ergreifen. Man findet oft
zwei "Verliebte", die niemanden sonst lieben. Ihre Liebe ist dann in
Wirklichkeit ein Egoismus zu zweit; es handelt sich dann um zwei
Menschen, die sich miteinander identifizieren und die das Problem
des Getrenntseins so lösen, daß sie das Alleinsein auf
zwei Personen erweitern.
Erotische Liebe ist zwar exklusiv, aber sie liebt im anderen die
ganze Menschheit, alles Lebendige. Sie ist exklusiv nur in dem Sinn,
daß ich mich mit ganzer Intensität eben nur mit einem
einzigen Menschen vereinigen kann.
Die Liebe sollte im wesentlichen ein Akt des Willens, des
Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines anderen
Menschen zu binden.
Jemanden zu lieben, ist nicht nur ein starkes Gefühl, es ist
auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen. Wäre die
Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht die Grundlage
für das Versprechen sein, sich für immer zu lieben. Ein
Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden.
Insofern wir alle eins sind, können wir jeden auf die gleiche
Weise im Sinne einer Nächstenliebe lieben. Aber insofern wir
auch alle voneinander verschieden sind, setzt die erotische Liebe
gewisse spezifische, höchst individuelle Elemente voraus, wie
sie nur zwischen gewissen Menschen und keineswegs zwischen allen zu
finden sind.
So sind beide Auffassungen richtig, die Ansicht, daß die
erotische Liebe eine völlig individuelle Anziehung, etwas
Einzigartiges zwischen zwei bestimmten Personen ist, wie auch die
andere Meinung, daß sie nichts anderes ist als ein reiner
Willensakt. Vielleicht sollte man besser sagen, daß die
Wahrheit weder in der einen noch in der anderen Auffassung zu finden
ist. Daher ist auch die Idee, man könne eine Verbindung ohne
weiteres wieder lösen, wenn sie sich als nicht erfolgreich
herausstellt, ebenso irrig wie die Ansicht, daß man eine
Verbindung unter keinen Umständen wieder lösen dürfe.
Während kein Einwand dagegen erhoben wird, wenn man seine Liebe
den verschiedensten Objekten zuwendet, ist die Meinung
weitverbreitet, daß es zwar eine Tugend sei, andere zu lieben,
sich selbst zu lieben aber, das sei Sünde. Man nimmt an, in dem
Maß, wie man sich selbst liebe, liebe man andere nicht, und
Selbstliebe sei deshalb das gleiche wie Selbstsucht.
Ist die Selbstsucht des modernen Menschen tatsächlich ein
liebevolles Interesse an sich selbst als einem Individuum mit allen
seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen
Möglichkeiten? Ist "er", der moderne Mensch, nicht vielmehr zu
einem Anhängsel an seine sozio-ökonomische Rolle geworden?
Ist seine Selbstsucht wirklich dasselbe wie Selbstliebe, oder ist
die Selbstsucht nicht geradezu die Folge davon, daß es ihm an
Selbstliebe fehlt?
Die Liebe zu anderen und die Liebe zu uns selbst stellen keine
Alternative dar; ganz im Gegenteil wird man bei allen, die
fähig sind, andere zu lieben, beobachten können, daß
sie auch sich selbst lieben. Liebe ist grundsätzlich unteilbar;
man kann die Liebe zu anderen Liebes-"Objekten" nicht von der Liebe
zum eigenen Selbst trennen.
Wenn ein Mensch fähig ist, produktiv zu lieben, dann liebt er
auch sich selbst; wenn er nur andere lieben kann, dann kann er
überhaupt nicht lieben.
Die als Gottesliebe bezeichnete religiöse Form der Liebe ist
psychologisch gesehen nichts anderes. Sie entspringt dem
Bedürfnis, das Getrenntsein zu überwinden und Einheit zu
erlangen. Tatsächlich hat ja die Liebe zu Gott ebenso viele
verschiedene Qualitäten und Aspekte wie die Liebe zum Menschen
und wir finden bei ihr auch im allgemeinen ebenso viele
Unterschiede.
[Lange Ausführungen über verschiedene Gottesvorstellungen;
Fromm selbst hat offenbar ein recht abstraktes Gottesbild]
[Kapitel "Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen
Gesellschaft". Ursachen: kapitalistische Wirtschaftsform,
Warencharakter aller Dinge, tote Dinge haben höheren Wert als
das Lebendige, Mensch als freiwilliges Rädchen in der Maschine,
"Vorankommen" als wichtigstes Ziel]
Eine Form der Pseudoliebe, die nicht selten ist und oft als die
"große Liebe" erlebt wird (und die noch öfter in
rührenden Filmen und Romanen dargestellt wird), ist die
abgöttische Liebe. Wenn jemand noch nicht das Niveau erreicht
hat, wo er ein Gefühl der Identität, des Ich-Seins hat,
das sich auf die produktive Entfaltung seiner eigenen Kräfte
gründet, neigt er dazu, die geliebte Person zu
"vergöttern". Er wird dann seinen eigenen Kräften
entfremdet und projiziert sie auf die geliebte Person, die er als
das summum bonum, als Inbegriff aller Liebe, allen Lichts und aller
Seligkeit verehrt. Bei diesem Prozeß beraubt er sich
völlig des Gefühls von eigener Stärke und verliert
sich in der Geliebten, anstatt sich in ihr zu finden.
[Anmerkung m.k.:
Man beachte die, selbst bei Fromm leider relativ häufig
anzutreffende, implizite Verteilung der Geschlechterrollen, wie hier
z.B. der Liebende ("jemand") vs. die Geliebte]
Da in der Regel niemand auf die Dauer die Erwartungen eines so
abgöttischen Liebenden erfüllen kann, muß es zu
Enttäuschungen kommen, und man sucht sich mit einem neuen Idol
zu entschädigen, manchmal in einem nicht endenden Kreislauf.
Kennzeichnend für diese Liebe ist die Intensität und
Plötzlichkeit des Liebeserlebnisses. Oft wird diese
abgöttische Liebe als die wahre große Liebe bezeichnet.
Aber während sie angeblich der Inbegriff einer intensiven,
tiefen Liebe ist, spricht aus ihr in Wirklichkeit nur der Hunger und
die Verzweiflung des abgöttisch Liebenden. Es braucht wohl
nicht besonders erwähnt zu werden, daß nicht selten zwei
Menschen in einer gegenseitigen abgöttischen Liebe
zusammenfinden, die in Extremfällen das Bild einer folie a deux
[Wahnsinn zu zweit] bietet.
[verschiedene andere Varianten von Pseudoliebe]
[Zum Umgang mit Konflikten in einer Beziehung:]
Wirkliche Konflikte zwischen Menschen, die nicht dazu dienen, etwas
zu verdecken oder auf den anderen zu projizieren, sondern die in der
Tiefenschicht der inneren Wirklichkeit, zu der sie gehören,
erlebt werden, sind nicht destruktiv. Sie dienen der Klärung
und führen zu einer Katharsis, aus der beide Partner wissender
und gestärkt hervorgehen.
[Wie man die Kunst des Liebens lernen könnte:]
Vor allem erfordert die Ausübung einer Kunst Disziplin. Ich
werde es nie zu etwas bringen, wenn ich nicht diszipliniert vorgehe.
Aber es geht nicht nur um die Disziplin bei der Ausübung einer
bestimmten Kunst (zum Beispiel, sich jeden Tag einige Stunden darin
zu üben), sondern man sollte sich in seinem gesamten Leben um
Disziplin bemühen.
Tatsächlich zeigt der moderne Mensch außerhalb der
Sphäre seiner Berufsarbeit nur äußerst wenig
Selbstdisziplin. Wenn er nicht arbeitet, möchte er faulenzen
und sich herumräkeln oder - etwas netter ausgedrückt -
sich "entspannen". Daß man faulenzen möchte, ist aber
großenteils nichts anderes als eine Reaktion darauf, daß
unser Leben durch und durch zur Routine geworden ist. Eben weil der
Mensch sich acht Stunden am Tag gezwungen sieht, seine Energie auf
Zwecke zu verwenden, die nicht seine eigenen sind, bei einer
Arbeitsweise, die er sich nicht selbst aussuchen kann, sondern die
ihm vom Arbeitsrhythmus vorgeschrieben wird, begehrt er auf, und
sein Aufbegehren nimmt die Form eines kindlichen Sich-gehen-Lassens
an.
Ohne Disziplin aber wird das Leben zersplittert und chaotisch, und
es fehlt ihm an Konzentration.
Daß die Konzentration eine unumgängliche Vorbedingung
für die Meisterschaft in einer Kunst ist, bedarf kaum eines
Beweises. Jeder, der jemals eine Kunst zu erlernen versuchte,
weiß das. Trotzdem ist aber die Konzentration in unserer
Kultur sogar noch seltener als die Selbstdisziplin. Ganz im
Gegenteil führt unsere Kultur zu einer unkonzentrierten,
zerstreuten Lebensweise, für die es kaum eine Parallele gibt.
Man tut vielerlei gleichzeitig. Zu gleicher Zeit liest man,
hört Radio, redet, raucht, ißt und trinkt. Wir sind die
Konsumenten mit dem stets geöffneten Mund, begierig und bereit,
alles zu verschlingen, - Bilder, Schnaps und Wissen. Dieser Mangel
an Konzentration kommt auch darin deutlich zum Ausdruck, daß
es uns schwerfällt, mit uns allein zu sein. Stillzusitzen, ohne
zu reden, zu rauchen, zu lesen und zu trinken, ist den meisten
Menschen unmöglich. Sie werden nervös und zappelig und
müssen etwas tun - mit dem Mund oder den Händen.
Eine dritte Voraussetzung ist die Geduld.
Wenn man auf rasche Erfolge aus ist, lernt man eine Kunst nie. Aber
für den modernen Menschen ist es ebenso schwer, Geduld zu
haben, wie Disziplin und Konzentration aufzubringen. Unser gesamtes
Industriesystem ist genau dem Gegenteil förderlich: der
Geschwindigkeit.
Schließlich gehört auch noch zu den Vorbedingungen
für die Erlernung einer Kunst, daß es einem sehr wichtig
ist, darin Meister zu werden. Wenn die Kunst dem Lehrling nicht von
großer Wichtigkeit ist, wird er sie nie erlernen. Er wird
bestenfalls ein guter Dilettant, aber niemals ein Meister werden.
Man lernt anfangs eine Kunst nicht direkt, sondern sozusagen auf
indirekte Weise. Man muß oft zuerst eine große Anzahl
anderer Dinge lernen, die scheinbar nur wenig damit zu tun haben.
Ein Tischlerlehrling lernt zunächst einmal hobeln; ein
angehender Pianist übt zunächst Tonleitern; ein Lehrling
in der Zen-Kunst des Bogenschießens fängt mit
Atemübungen an.
Bezüglich der Kunst des Liebens bedeutet das, daß jeder,
der ein Meister in dieser Kunst werden möchte, in jeder Phase
seines Lebens Disziplin, Konzentration und Geduld praktisch
üben muß.
Wie übt man Disziplin?
Morgens regelmäßig zur gleichen Zeit aufstehen, sich
täglich eine bestimmte Zeit mit Tätigkeiten wie
meditieren, lesen, Musik hören und spazierengehen
beschäftigen; nicht über ein gewisses Mindestmaß
hinaus Ablenkung durch Kriminalromane und Filme suchen und nicht
zuviel essen und trinken, das wären einige auf der Hand
liegende Grundregeln. Wesentlich ist jedoch, daß man Disziplin
nicht wie etwas übt, das einem von außen aufgezwungen
wird, sondern daß sie zum Ausdruck des eigenen Wollens wird,
daß man sie als angenehm empfindet und daß man sich
allmählich ein Verhalten angewöhnt, das man
schließlich vermissen würde, wenn man es wieder aufgeben
sollte.
Sich zu konzentrieren ist in unserer Kultur noch weit schwieriger,
wo alles der Konzentrationsfähigkeit entgegenzuwirken scheint.
Der wichtigste Schritt dazu ist zu lernen, mit sich selbst allein zu
sein, ohne zu lesen, Radio zu hören, zu rauchen oder zu
trinken. Tatsächlich bedeutet sich konzentrieren zu können
dasselbe, wie mit sich allein sein zu können - und eben diese
Fähigkeit ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu
lieben.
Dabei können ein paar sehr einfache Übungen helfen, wie
zum Beispiel in entspannter Haltung (ohne sich zu räkeln, aber
auch nicht verkrampft) dasitzen, die Augen schließen,
versuchen, sich eine weiße Fläche vorzustellen und dabei
alle störenden Bilder und Gedanken auszuschalten. Dann sollte
man das eigene Atmen verfolgen; man sollte nicht darüber
nachdenken und es auch nicht gewaltsam beeinflussen, sondern es
einfach verfolgen - und es auf diese Weise "spüren". Ferner
sollte man versuchen, sein "Ich" zu erfüllen; Ich = mein Selbst
als Zentrum all meiner Kräfte, als Schöpfer meiner Welt.
Solche Konzentrationsübungen sollte man jeden Morgen wenigstens
zwanzig Minuten lang machen (wenn möglich noch länger)
sowie allabendlich vor dem Schlafengehen.
Neben solchen Übungen sollte man lernen, sich bei allem, was
man tut, zu konzentrieren: wenn man Musik hört, ein Buch liest,
sich mit jemand unterhält oder eine Aussicht bewundert. Nur
das, was wir in diesem Augenblick tun, darf uns interessieren, und
wir müssen uns ihm ganz hingeben. Wenn man sich so auf etwas
konzentriert, spielt es kaum eine Rolle, was man tut. Dann nehmen
alle Dinge, die wichtigen wie die unwichtigen, eine neue Dimension
in der Wirklichkeit an, weil wir ihnen unsere volle Aufmerksamkeit
schenken. Wenn man lernen will, sich zu konzentrieren, sollte man
triviale Unterhaltungen, das heißt solche, die nicht echt
sind, möglichst meiden.
Hinzuzufügen wäre noch, daß man nicht nur keine
trivialen Unterhaltungen führen, sondern auch daß man
schlechte Gesellschaft möglichst meiden sollte. Unter
schlechter Gesellschaft verstehe ich nicht nur lasterhafte und
destruktive Menschen; ihnen sollte man aus dem Weg gehen, weil sie
eine vergiftete und deprimierende Atmosphäre um sich
verbreiten. Ich meine auch die Gesellschaft von Menschen, die
innerlich abgestorben sind, deren Seele tot ist, obgleich ihr
Körper noch lebt, von Menschen, deren Gedanken und deren
Unterhaltungen trivial sind, die schwätzen anstatt zu reden und
die Gemeinplätze statt eigene Gedanken vorbringen. Freilich ist
es nicht immer möglich, die Gesellschaft solcher Leute zu
meiden, und es ist auch gar nicht notwendig. Wenn man ihnen nicht in
der erwarteten Weise mit Gemeinplätzen und Belanglosigkeiten
antwortet, sondern unmittelbar und menschlich reagiert, wird man oft
erleben, daß auch sie ihr Verhalten ändern, und das oft
aufgrund des Überraschungseffekts, den der Schock des
Unerwarteten bei ihnen auslöst. Auf andere konzentriert zu
sein, heißt vor allem zuhören zu können.
Man kann Konzentration nicht erlernen, wenn man sich kein
Gespür für sich selbst erwirbt.
Nach allem, was ich über das Wesen der Liebe gesagt habe, ist
die Hauptvoraussetzung für die Fähigkeit, lieben zu
können, daß man seinen Narzißmus überwindet.
Da die Fähigkeit zu lieben davon abhängt, daß unser
Narzißmus relativ gering ist, verlangt diese Kunst die
Entwicklung von Demut, Objektivität und Vernunft.
Die Praxis der Kunst des Liebens erfordert die Praxis des Glaubens.
[Ausführungen über den Begriff "Glauben"]
Der Höhepunkt des Glaubens an andere wird im Glauben an die
Menschheit erreicht.
Genau wie der Glaube an ein Kind gründet auch er sich auf die
Idee, daß die dem Menschen gegebenen Möglichkeiten derart
sind, daß er unter entsprechenden Bedingungen die
Fähigkeit besitzt, eine von den Grundsätzen der
Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe getragene Gesellschaftsordnung
zu errichten.
Wir glauben an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und
der Menschheit nur deshalb, weil wir das Wachstum unserer eigenen
Möglichkeiten, die Realität des Wachsens und die
Stärke unserer eigenen Vernunft und unserer
Liebesfähigkeit in uns erfahren haben; und wir glauben nur
insoweit daran, wie wir diese Erfahrung in uns selbst gemacht haben.
Die Grundlage des rationalen Glaubens ist die Produktivität.
Aus dem Glauben heraus leben heißt produktiv leben. Hieraus
folgt, daß der Glaube an die Macht (im Sinne von Herrschaft)
und an die Ausübung von Macht das Gegenteil des Glaubens ist.
An eine bereits existierende Macht glauben ist gleichbedeutend mit
der Verleugnung der Wachstumschancen noch nicht realisierter
Möglichkeiten.
Glauben erfordert Mut. Damit ist die Fähigkeit gemeint, ein
Risiko einzugehen, und auch die Bereitschaft, Schmerz und
Enttäuschung hinzunehmen. Wer Gefahrlosigkeit und Sicherheit
als das Wichtigste im Leben ansieht, kann keinen Glauben haben.
Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des
Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur nebenbei
erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich
diskutiert werden, da sie die Grundlage für die Praxis des
Liebens ist: die Aktivität im Sinne des aus sich heraus
Tätigseins. Ich erwähnte bereits, daß Aktivität
nicht so zu verstehen ist, daß man "sich irgendwie
beschäftigt", sondern als inneres Tätigsein, als
produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte.
Die Fähigkeit zu lieben erfordert einen Zustand intensiver
Wachheit und gesteigerter Vitalität, der nur das Ergebnis einer
produktiven und tätigen Orientierung in vielen anderen
Lebensbereichen sein kann. Ist man auf anderen Gebieten nicht-
produktiv, so ist man es auch nicht in der Liebe.
[Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft]
Tatsächlich steckt er [Zynismus] hinter der Auffassung des
Durchschnittsbürgers, der das Gefühl hat: "Ich wäre
ja recht gern ein guter Christ - aber wenn ich damit ernst machte,
müßte ich verhungern." Dieser "Radikalismus" läuft
aber auf einen moralischen Nihilismus hinaus. Ein solcher "radikaler
Denker" ist genau wie der Durchschnittsbürger ein
liebesunfähiger Automat, und der einzige Unterschied zwischen
beiden ist der, daß letzterer es nicht merkt, während
ersterer es weiß und darin eine "historische Notwendigkeit"
sieht. Ich bin der Überzeugung, daß die absolute
Unvereinbarkeit von Liebe und "normalem" Leben nur in einem
abstrakten Sinn richtig ist. Unvereinbar miteinander sind das der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugrunde liegende Prinzip und
das Prinzip der Liebe.
Selbst, wenn man erkannt hat, daß das Prinzip des Kapitalismus
mit dem Prinzip der Liebe an sich unvereinbar ist, muß man
doch einräumen, daß der "Kapitalismus" selbst eine
komplexe, sich ständig verändernde Struktur hat, in der
immer noch recht viel Nicht-Konformität und persönlicher
Spielraum möglich sind.
Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ob
wir damit rechnen könnten, daß unser gegenwärtiges
Gesellschaftssystem in alle Ewigkeit fortdauern wird und daß
wir gleichzeitig auf die Verwirklichung des Ideals der
Nächstenliebe hoffen können.
Das Wesen der Liebe zu analysieren, heißt ihr allgemeines
Fehlen heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen
Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube
an die Möglichkeit der Liebe als einer individuellen
Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die
Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.